
DAS GEHEIMNIS DER ZEIT
von Andreas Sauter // Regie: Juana v. Jascheroff
Ein Abend geschenkter Zeit
Geheimnisvoll und poetisch: In einer Eigenproduktion der Kellerbuhne St. Gallen spielen Matthias Peter und Daniel Pfister «Der Mann im Turm» als Schweizer Erstaufführung.
Es geht um die Zeit. Aber man kommt einen Abend lang nie auf die Idee, auf die Uhr zu schauen. Auch auf der Bühne sind keine Uhren zu sehen. Wohl gibt es den Huter der Zeit, der die Gewichte aufzieht, damit das Räderwerk weiterlauft. Und es ist die Rede von einem Zeiger, der vorrückt, immer wieder. Aber kein Zifferblatt, nirgends.
Es geht um die Zeit. Wenn nicht zeigen, dann halt sprechen über die Zeit? Die Sprache hat zeitmassig viel zu bieten - Zeit verrinnt, Zeit wird gestohlen, die Jahreszeit, aile Zeit der Welt, die lange Zeit, Zeitlosigkeit. .. Der Text des Schweizer Autors Andreas Sauter ist dicht und reich an Zeitbildern, aber er bedient sich nicht beim Erstbesten. Er stösst zum Beispiel in einer Figur eine Erinnerung an und überlässt es dem Zuschauer, weiter über kondensierte und konservierte verronnene Zeit nachzudenken. Oder er fragt ganz kindlich danach, ob man die Zeit vielleicht hören könne.
Zeit ins Spiel bringen - Es geht um die Zeit. Das ist schnell gesagt. Aber Theater will ja nicht nur reden. Kann man Zeit wortwörtlich «ins Spiel bringen»? Nichts weniger haben sich Matthias Peter (Spiel), Daniel Pfister (Musik) und Juana von Jascheroff (Regie) vorgenommen. Der Taktgeber ist der Mann im Turm im schwarzen Mantel und mit schwarzem Zylinder. Er hat ein Metronom. Aber er hat auch Flöten und klingende Metallplatten, denn hier geht es nicht um das gleichbleibende Metrum, sondern um den Rhythmus. Es geht um die Melodie in Raum und Zeit- oder in der Übersetzung f&uum;r den Darsteller: um die Lebenslinie über dem Pulsschlag. Die grosse lange Linie zeichnet ein Paar, das sich liebt, ein Kind zeugt, sich trennt und sich wiederfindet. Doch genauso wichtig wie die Zeitspanne ist der kurze Moment, in dem sich alles zeitgleich abspielt. Denn jeder hat seine Zeit: das Kind, der Mann mit der grünen Krawatte, das alte Paar, der Hund.
Millionen Jahre in Minuten - Es geht eine grosse Faszination davon aus, wie das Stück «Der Mann im Turm» die Zeit inszeniert. Einmal fliesst sie episch dahin, dann wieder verdichtet sie sich zum grossen Schlag. Matthias Peter kann in zwei Minuten Millionen Jahre Erdgeschichte erzählen oder aber einen Autounfall, der in einer Sekunde alles verändert. Rhythmisiert wird der Abend ausserdem durch wiederkehrende Sätze. «Der Zeiger rückt vor», unerbittlich und immer gleich, andere Sätze verschieben sich leicht.
Als auf einmal «kein Hund bellt», vermissen wir ihn; als der Zug nicht mehr abfährt, sondern ankommt, sind wir am Ziel. In der Rolle des Erzählers führt Matthias Peter subtil durch die Jahre, führt durch diese vielstimmige Partitur. Er sagt, sie sagt, es sagt. Oft Wiederholt, ein rhythmisches Element auch das. Die vielen Figuren sprechen miteinander und durcheinander und alle durch diesen einen Darsteller.
Das Spiel in mehreren Rollen hat Matthias Peter bereits im Pessoa-Stück erprobt. Auch die Sitzhaltung mit dem Koffer auf den Knien kennen wir von dort. Doch holt er noch einmal Neues heraus. Die Rollen sind unterschiedlicher diesmal - kindlich, jung, alt, zeitlos -, und gleichzeitig sind sie enger verzahnt.
An Bewegung zugelegt - Kleine Signale zeigen an, wer spricht: ein Fusswippen, eine Kopfdrehung, ein paar Schuhe. Auch wenn nicht alles illustriert und ausgespielt werden will, hat das Sprech-Theater doch an Bewegung zugelegt. Es gibt mehr Requisiten, und der Fensterrahmen als Kulisse erweitert den geschlossenen Bühnenraum. Doch bleibt die Inszenierung reduziert, sie konzentriert sich auf den Text, auf diese musikalische Sprache, die wunderbar zusammenspielt mit den Klängen und Melodien von Daniel Pfister. Und die am Ende die ganze Welt in Schwingung versetzt - ein berückend poetisches Bild, das hier aber nicht verraten sei.
Es geht um die Zeit. Sie bleibt ein Geheimnis, wie vieles andere auch an diesem Abend. Am Schluss geht man versonnen in die Nacht hinaus mit dem Gefühl, einen Abend geschenkt bekommen zu haben.
Eva Bachmann, St. Galler Tagblatt, Stadtkultur, 9. November 2012
Ob Gott einen Geruchssinn hat?
In der Kellerbühne St. Gallen hat am kommenden Mittwoch das Stück «Der Mann im Turm» Premiere. Das Schauspiel des Zürcher Dramatikers Andreas Sauter ist die diesjährige Eigenproduktion der Kellerbühne.
Sie lässt nichts durchgehen. Keine allzu beiläufige Geste, kein zu schnelles Wenden des Kopfes. Sie will, in diesem sehr reduzierten, wie unter einem Brennglas ausharrenden Kammerstück, die Präzision. Die Regisseurin Juana von Jascheroff- erinnert sei an ihre Inszenierung von Händl Klaus' Stück «Dunkel lockende Welt» vor sechs Jahren, oder des Pessoa-Abends auf der gleichen Bühne - sagt: «Es funktioniert nicht, wenn mir einfach etwas gezeigt wird, dann spür ich nichts.»
Sie meint die Sätze im Stück, die nur für den Bruchteil einer Sekunde aufscheinen und erlebbar werden. So kurz und gleichzeitig von einer ganz bestimmten Emotion getragen, die wie die Sicht auf ein Eichhörnchen ist, das von Ast zu Ast springt und das man auf keinen Fall aus den Augen verlieren will.
Einer in sieben Rollen - Matthias Peter spielt einerseits den Erzähler, andererseits alle anderen Figuren. Wie macht man das, wenn man gleichzeitig ein Kind, eine Mutter sowie fünf weitere Menschen verkörpern soli? «Es geht», so Jascheroff, «wenn nichts, was die einzelnen Figuren zu spielen haben, schon fertig gedacht ist. Es müssen Bilder genau dann heraufkommen, wenn die Sätze gesagt werden, es darf nicht eingeübt klingen.»
Matthias Peter öffnet einen alten Koffer und nimmt daraus zwei Fingerpüppchen heraus - eines für das Kind, eines für die Mutter. Die Püppchen unterhalten sich, wie am Rand einer winzigen Guckkastenbühne, am geöffneten Rand des Kofferdeckels. Ein schöner und passender Einfall, wenn er denn, wie es jetzt Juana von Jascheroff nochmals aus ihrer begleitenden Perspektive erläutert, als wär es ein plötzlicher Einfall, ganz aus dem Augenblick herauswächst, als wäre alles, was davor war oder danach käme, nicht vorhanden. Wie ein in ein Spiel vertieftes Kind. Es geht in der dramatischen Erzählung um die Gegenwärtigkeit von Zeit, in der einst Liebe war und nun nur noch als Erinnerung vorhanden ist.
Und als Sehnsucht, als Frage vorkommt, was das Wünschen, was Entfremdung ist, und wie Glück zu halten wäre. In seiner unverblümten Direktheit richtet das Kind seine Fragen an den «Mann im Turm». Der Musiker Daniel Pfister sitzt denn auch wie ein Wächter über der Zeit zwischen seinen Gerätschaften aus Instrumenten und eigens für das Stück gebauten Klanginstallation. Das Metronom ist in Gang gesetzt wie die unaufhaltbare Zeit, über der in diesem Mikrokosmos die grossen Fragen von Verlust und der Sehnsucht nach Aufgehobensein und Geborgenheit verhandelt werden.
Andreas Sauter fischt diejenigen Sätze aus dem Lebensteich, die man wie zu kleine Fische dorthin zurückgeworfen hat. Mit der Technik kleinster «Bindungen» in der Art von Synkopen, welche den Takt aufbrechen, einen Akzent verschieben, eine Phrasierung betonen, Pausen zulassen, gelingt dem 1974 in Zürich geborenen, mehrfach ausgezeichneten Autor eine dichte Unmittelbarkeit. Sauter studierte an der Hochschule für Künste Berlin szenisches Schreiben; zweimal gehörte er zu den Finalisten der St. Galler Autorentagen.
Klug gegliedert - Und Juana von Jascheroff schält mit ihrer differenzierten Begleitung jede Person in ihrer Eigenständigkeit aus dem Lauf der Geschichte heraus, ohne dass der Erzähler sich in Verwandlungskünsten winden muss. Erklärende Satzelemente wie «sagt das Kind», oder «denkt der Mann» vermeiden die Havarie am Figurenmix; wenn die Frau, die sich langsam einschleichende Fremdheit in ihrer Beziehung in Form eines «anderen Geruchs» wahrnimmt und das Kind später seinen imaginären Gesprächspartner im Turm fragt, ob Gott wohl auch riechen könne, dann sind dies ganz starke Momente einer gleichzeitig banalen wie zärtlichen Wirklichkeit, die Matthias Peters Anspruch erfüllen durften, auf dieser Bühne Geschichten zu erzählen, die auch ausserhalb des Theaters weitergedacht werden können.
St.Galler Tagblatt, Stadtkultur, 5. November 2012

von Antonio Tabucchi // Regie: Juana v. Jascheroff
Abschied von den tausend Leben
Fünf letzte Begegnungen: Matthias Peter nähert sich dem sterbenden Dichter Fernando Pessoa in Gestalt seiner literarischen Stellvertreter. Ein Kellerbühne-Solo mit geheimnisvollen Zwischentönen.
Erschöpft liegt er auf der rollbaren Spitalpritsche; das Leintuch, mit dem Freund Hein ihn am Ende bedecken wird, ist sorgfältig glattgestrichen. Der biedere graue Anzug hängt iiber dem Stuhl; Hut und Koffer stehen bereit für die letzte Reise. Aber noch einmal taucht der Dichter ein in das Vexierspiel mit seinen Doppelgängern, die stellvertretend für ihn ein facettenreiches Werk hinterlassen haben: Sonette, futuristische Maschinenpoesie, klassizistische Verse im Stil von Pindar und Horaz.
Ein Solo mit Musik - Fünf Dichter suchen ihren Autor heim - so könnte man die geistreiche Hommage des italienischen Romanciers und Literaturwissenschafters Antonio Tabucchi an Fernando Pessoa in aller Kürze fassen. Wobei Kürze in den letzten Lebenszügen doch ziemlich pietätlos wäre. Also durchstreift Tabucchis Erzählung, von Matthias Peter für die Kellerbühne adaptiert und in ein Solo mit Musik verwandelt, noch einmal lust- und phantasievoll den literarischen Kosmos des Portugiesen und seiner Masken: so assoziativ und verspielt, wie es sich gehört für einen unscheinbaren Bürolisten, hinter dessen hoher Stirn sich unzählige Universen verbargen. In der letzten Begegnung mit den Geistern, die Pessoa rief, erfüllt ihm Tabucchi nichts weniger als einen unausgesprochenen letzten Willen.
Bettina Kugler, St. Galler Tagblatt, Regionkultur, 19. November 2010
Poet mit vielen Ichs
Zum 75. Todestag des portugiesischen Lyrikers Fernando Pessoa bringt die Kellerbühne St. Gallen einen Text des Italieners Antonio Tabucchi über Pessoa auf die Bühne. Fünf Heteronyme des Lyrikers verabschieden sich hierin von diesem.
«Bevor wir in die Finsternis eingehen, haben wir einiges zu besprechen», heisst es in Antonio Tabucchis Text «Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa - ein Delirium» von 1998. Der Sieneser Professor, Autor, Bewunderer und Übersetzer Pessoas lässt in dieser Prosa die Heteronyme des portugiesischen Lyrikers auftreten, die sich von Pessoa kurz vor seinem Tode verabschieden. Alle fassen sich vor Schmerz an die Leberseite - alle sind sie Pessoa selbst.
Prozess des Sterbens - Matthias Peter steht wieder einmal selbst auf den Brettern seiner Kellerbühne. Seit langem bewundert er die dichte Atmosphäre in Pessoas Dichtung. Seit Jahren schwebt ihm vor, Tabucchis Text über das Sterben des Portugiesen als Einmannstück auf die Bühne zu bringen.
Die vielen Rollen, in die Pessoa geschlüpft ist, in einer Person zu verkörpem, ist eine Herausforderung. «Ein Schauspieler muss diese Aufschlüsselung in verschiedene Personen genau erfassen und sie ganz aus seinem Inneren hervorholen», sagt Regisseurin Juana von Jascheroff.
Martin Preisser, St.Galler Tagblatt, Regionkultur, 16. November 2010